Sogar im Kaukasus werden zu wenige Mädchen geboren. Eine der Folgen ist eine von Priestern geführte Kampagne für ein Verbot der Abtreibung. Ein Bericht von New Internationalist-Autor Onnik Krikorian.
Ende Juli versammelte sich eine kleine Gruppe georgischer Frauen vor dem rechtsmedizinischen Institut des Landes, um gegen die Einführung einer neuen kostenpflichtigen Dienstleistung zu protestieren: der Zertifizierung der Jungfräulichkeit einer angehenden Braut.
Für die Protestierenden ein neuerlicher Angriff auf die Rechte der Frauen in Georgien. Auch die Georgische Orthodoxe Apostelkirche ist in die Offensive gegangen, um die „traditionellen Werte“ zu verteidigen: Aktuelle Zielscheibe ist die Abtreibung, wobei das verzerrte Geschlechterverhältnis in Georgien als Rechtfertigung für die Forderung nach ihrem Verbot herhalten muss.
Bis 1991 entsprach das Geschlechterverhältnis bei der Geburt in Armenien, Aserbaidschan und Georgien dem weltweiten Durchschnitt (105 Buben auf 100 Mädchen, Anm. d. Red.). Danach kam es aber im südlichen Kaukasus zu drastischen Veränderungen: 2011 lag das Verhältnis in Armenien bei 112 Buben auf 100 Mädchen, in Aserbaidschan bei 116:100 und in Georgien bei 111:100. Ein Grund könnte eine pränatale Geschlechterselektion sein, wie u.a. der UN-Bevölkerungsfonds (UNFPA) aufgrund der hohen Zahl registrierter Abtreibungen vermutet.
Die Abtreibungsquote in Aserbaidschan liegt bei 162 je 1.000 Lebendgeburten. Das ist weit unter dem europäischen Schnitt von 222, doch im Parlament der Republik am Kaspischen Meer wird bereits ein Verbot pränataler Geschlechtsdiagnosen und ein völliges Verbot der Abtreibung gefordert. Die Quote liegt in Armenien mit 274 Abtreibungen je 1.000 Lebendgeburten viel höher und in Georgien mit 408 sogar erschreckend hoch.
Die Kinderzahlen haben jedenfalls stark abgenommen, sagt Ona Marija Vysniauskaite, Analystin von Caucasus Research Resource Centers (CRRC) in Tiflis. „Mitte der 1960er Jahre hatte eine Familie in Georgien im Schnitt drei Kinder, in Armenien vier und in Aserbaidschan fünf. Heute dagegen beträgt die durchschnittliche Kinderzahl pro Familie in Georgien 1,46, in Armenien 1,38 und in Aserbaidschan 1,92. Bei nur ein oder zwei Kindern wollen viele Familien einfach lieber einen Sohn haben.“
Nina Modebadze, Chefredakteurin eines Webportals zu Genderfragen, nennt einen Grund dafür. „In unserer Gesellschaft gelten Frauen nach wie vor als Bürger zweiter Klasse“, erklärte sie gegenüber dem italienischen Online-Magazin Osservatorio Balcani e Caucaso. „Sie werden im Berufsleben benachteiligt und verdienen auch weniger. Wenn man einen georgischen Mann fragt, ob er einen Buben oder ein Mädchen haben will, wird er sicher sagen: ‚Natürlich einen Buben! Ich will einen Sohn, und ich werde einen haben.‘“
Nach Daten aus CRRC-Haushaltserhebungen ist Religion für 92% der GeorgierInnen ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens. Darauf stützt sich die Orthodoxe Apostelkirche bei ihren Versuchen, mehr Einfluss zu gewinnen. Zu Ostern verurteilte Patriarch Ilia II. die Abtreibung als „schreckliche Sünde“, um nichts geringer als „Kindsmord“. Als Schuldige brandmarkte er „bolschewikische Atheisten“ und liberale Strömungen im Lande.
Die Regierung dagegen ist nicht davon überzeugt, dass ein Abtreibungsverbot das Problem lösen würde. Ein solches Gesetz könnte die Abtreibungen bloß in den Untergrund zwingen, warnte die Justizministerin des Landes, Tea Tsulukiani. Besser wäre es, die pränatale Geschlechtsdiagnose zu verbieten. Das entspricht auch einer (nicht bindenden) Resolution der Parlamentarischen Versammlung des Europarats vom Oktober 2011, in der ein Verbot der pränatalen Geschlechterselektion gefordert wird.
Mit dem wachsenden Einfluss der Kirche ist jedoch nicht abzusehen, ob sich am Ende liberale Werte durchsetzen werden. Zwar orientiert sich Georgien eher an Europa, weshalb das Land vielleicht einen progressiveren Kurs einschlagen könnte als seine Nachbarn, darunter Russland und die Türkei. Die Regierung ist jedoch in die Defensive geraten, seit im Mai ein von Priestern angeführter Mob orthodoxer Gläubiger in Tiflis Teilnehmer einer Kundgebung für Homosexuellenrechte durch die ganze Stadt jagte.
Was den Umgang mit heiklen Fragen wie Abtreibung oder Geschlechterselektion in Georgien betrifft, verheißt dieser tobende Kampf zwischen Tradition und Moderne jedenfalls nichts Gutes.
© New Internationalist
Onnik Krikorian ist Photojournalist und lebt in Georgien.
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